Tag 196: einguteshalbesjahreuropa

B: Und schon ist Halbzeit vorbei! Wir sind tatsächlich schon über ein halbes Jahr unterwegs. Ich finde, das ist ein guter Moment  Zwischenbilanz zu ziehen.

Als Erstes: Meine Lust unterwegs zu sein, ist ungebrochen. Manchmal habe ich ein wenig Heimweh nach meinem geregelten Leben in Wangen, aber nicht sehr.

Dann: Ich vermisse ein paar geliebte Menschen! Ganz vornedran meine drei ganz wunderbaren Kinder, und mal davon abgesehen meine mir so lieben Freundinnen.  In dem Wissen, dass ein halbes Jahr dann doch ganz schön schnell  vorbei geht, werde ich das aushalten. Und in der Hoffnung, eine/n meiner Lieben vielleicht mal unterwegs zu treffen.

– Was mir zuweilen etwas Sorgen bereitet, ist die Tatsache, dass ich nach einem halben Jahr Urlaub immer noch problemlos in der Lage bin weiter Urlaub zu machen. Ab und zu schlafe ich richtig lang, wir stellen fast nie den Wecker. An einigen Tagen im Winter bestanden die wichtigsten Aufgaben des Tages darin zu duschen und zu spülen, darüber mag ich ein wenig hinaus sein, aber im Grunde ist mein Tag mit relativ wenigen Aktivitäten gut ausgefüllt. Wie soll ich in einen normalen Arbeitsalltag zurückfinden, frage ich mich da manchmal, wenn mir doch jetzt schon das Rentnerdasein so völlig auszureichen scheint. Und dann denke ich: Offensichtlich brauche ich all diese Zeit, um was auch immer danach tun zu können. Es geht doch vielleicht genau darum, meinen Leistungsanspruch mal für einen solch luxuriösen Zeitraum völlig sein zu lassen. Und mir dieses scheinbare Nichtstun zuzugestehen, Raum zu schaffen für das, was dann kommen mag (aber ein bisschen nervös macht mich das schon :))

– Nicht zu vergessen in diesem Zusammenhang ist, dass ich krank diese Reise angetreten habe. Seit letztem Juni ist nichts mehr so wie es mal war, wobei ich nach wie vor glaube und hoffe, dass es wieder gut wird. Durch die Einnahme des Antibiotikums Ciprofloxacin habe ich bis heute, das sind jetzt über 9 Monate, Beschwerden. Wer im Internet schaut, wird schnell fündig – ich bin da kein Einzelfall. Das Perfide an den Nebenwirkungen dieser sogenannten Fluorchinolone ist, dass sie gerne viele Monate bis Jahre anhalten. Wer sie mal hat, wird sie meist so schnell nicht wieder los. Bei mir wirkt sich das Ganze hauptsächlich  auf meinen Bewegungsapparat aus. Etliche Sehnen, v.a. die Achillessehnen und Sehnen in den Händen, aber gern auch mal andere, schmerzen und fühlen sich schwach an. Anfangs plagten mich noch nächtliches Herzwummern, erhöhter Blutdruck, hypochondrische und andere  Ängste, das ist aber gottlob vorbei. An schlechten Tagen tun auch noch ein paar Knochen und Gelenke weh.  Habe ich mich je getraut, wieder etwas Sportliches zu tun auf dieser Reise, ist das dann auch fast immer nach hinten losgegangen und fast alle Symptome waren erst mal wieder da, wie am ersten Tag. Mittlerweile, nachdem ich gefühlte Tonnen an Magnesium eingenommen und auf die Haut aufgetragen habe, sowie etliche andere gesunde Sachen eingenommen habe, geht es mir besser und ich kann Wanderungen, auch mal längere, machen, mal mit mehr, mal mit weniger Folgen. Das Positive an dieser Geschichte ist, dass ich wieder sehr bewusst auf meine Gesundheit achte. Was mich erstaunt, ist, dass die meisten Ärzte nichts oder nur wenig davon zu wissen scheinen. In Selbsthilfegruppen im Internet laufen täglich bis wöchentlich neue Geschädigte auf, immer die gleichen bis ähnliche Symptome produzierend. Und das Zeug wird weiter verschrieben auf Teufel komm raus, selbst wenn es harmlosere Alternativen gibt.

– Was mir wirklich Spaß macht, ist mit Sprachen zu experimentieren. Griechisch war natürlich am schwierigsten. Mehr als einzelne Worte waren da auch nicht drin zu lernen. Die Schrift ist eine Herausforderung, ich hab mich immer riesig gefreut, wenn ich mal ein paar Worte lesen konnte. Italienisch kann ich auch nicht. Aber Martin und ich fanden es zunehmend spannend, italienische Worte aus dem Französischen, Spanischen oder Englischen abzuleiten und haben dann erstaunlich viel lesen können. Da Italiener ja gerne mit vollem Körpereinsatz reden, haben wir immer ungenierter alles Mögliche irgendwie halbwegs italienisch  gefragt, um dann sehr  oft tatsächlich die Antworten zu verstehen – klasse! Jetzt hier in Frankreich packen wir unser Schulfranzösisch aus (7. – 10. Klasse bei Herrn Jung) – und reden – genau: französisch. Manchmal sogar in ganzen Sätzen. Nun: Wer je in Frankreich war, weiß: Franzosen reden am liebsten französisch, ungern andere Sprachen. Manchmal verstehe ich sogar was, wenn ich Antworten bekomme 🙂 Meine Hemmungen, ich könnte was nicht richtig formulieren oder aussprechen, sind fast gänzlich gefallen, ich spreche ungeniert Leute am Kühlregal im Supermarkt an und meistens werde ich dann freundlich verbessert und lerne dabei weiter.

Viel beschäftigt mich immer wieder das Schöne und das Schreckliche auf dieser Welt. So war doch einer meiner Wünsche an diese Reise, das Schöne dieser Welt zu sehen – Landschaften, Städte, Burgen, Schlösser und Tempel. Doch der Wunsch hat sich natürlich nicht immer erfüllt. Trauriges und Schreckliches können wir nicht einfach für ein Jahr aus dem Leben raushalten, dazu ist die Welt einfach zu sehr so, wie sie ist. Ob es der Tod dieser 3 halbverhungerten Katzen in Koroni war oder die Armut, die in Griechenland manchmal sehr greifbar war oder aber schlechte Nachrichten über Kriege und anderes Grausames in dieser Welt. Nicht zuletzt hat mich der Flugzeugabsturz der Germanwings-Maschine wirklich mitgenommen.  Wie schnell kann sich das ganze Leben ändern. Mitleid und Empathie empfinden können ist das Eine, dankbar sein zu können für das, womit wir im Leben beschenkt sind, das Andere.

Mein letzter, aber vielleicht wichtigster Punkt ist der, bei dem es um Martin und mich geht. Mensch, haben wir uns was getraut! Nach 4 Jahren Wochenendkiste plötzlich 24/24, 7/7. Und ja,  wir hatten es manchmal ganz schön schwierig miteinander. Es gab mehrere Situationen, in denen wir ernsthaft überlegt hatten die ganze Reise hinzuschmeißen, Momente, in denen ich alles, was unsere Liebe so wertvoll macht, angezweifelt habe. In den täglichen Berichten bisher hatte ich diese Momente ausgespart, auch wenn sie ja Teil unseres Erlebten waren, ich hätte mich damit zu verletzlich gefühlt, solange wir noch so in unseren ungeklärten Gedanken unterwegs waren.  Es gibt aber etwas sehr Kostbares, das ich von Anfang an als ganz besonders zwischen uns empfunden habe und das ist unsere Fähigkeit miteinander reden zu können und! dabei aufrichtig zu sein mit dem was wir fühlen und denken. Das ist ein wahres Juwel. Mit den Wochen und Monaten haben wir Themen entheddert, dahin sortiert, wo sie eigentlich hingehören, Missverständnisse geklärt, Klarheit in Vieles reingebracht. Wir haben uns gestritten und wieder vertragen zwischen all den so schönen, entspannten, aufregenden Momenten auf unserer Reise. Und, was ich in dunklen Momenten nicht für möglich gehalten hätte – es wird weniger. Weniger an Missverständnissen, weniger Streit, weniger Aufregung. Und mehr. Mehr Verstehen, mehr gutes Zusammensein, mehr Einverständnis. Obwohl wir nicht den Ausweg eines ’normalen‘ Alltags mit Jobs, Freunden und anderen Ausweichmöglichkeiten gewählt haben (Abbruch der Reise), sondern lediglich ab und zu ein paar Stunden getrennt was unternommen haben (und das weiterhin tun werden). Was bleibt, ist meine ganz große Liebe zu Martin und meine Dankbarkeit für seine außergewöhnliche Authentizität, was wächst, ist ein Gefühl von Frieden und von Vertrauen. So kann es gerne weiter gehen auf unserer Reise miteinander.


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